Gieht schie, Enrique?

14.03.2023

Interview mit Enrique Lorenzo

Auswandern, Deutsch lernen, Mundart verstehen – wie geht das eigentlich? Einer, der die Sonne der Kanarischen Inseln gegen das raue Erzgebirgsklima getauscht hat, ist Enrique Lorenzo. Der 33-Jährige ist mit Frau und zwei kleinen Töchtern in Annaberg-Buchholz zu Hause. Seit 2020 arbeitet er bei der LWL Sachsenkabel GmbH, einem Spezialisten für Glasfaserlösungen. Die Art und Weise, wie das Unternehmen tickt, welche Werte es lebt und ein Job, der ziemlich international ist, haben ihm das Heimischwerden erleichtert.


Weltbürger

Dieser Ausdruck beschreibt ihn wohl am ehesten: Vater von La Palma, Mutter eine Italienerin. Geboren in Venezuela, aufgewachsen auf Teneriffa. Bachelor-Studium Wirtschaftsgeografie und Raumplanung an der Universität von La Laguna (Teneriffa/Spanien). Erasmus-Auslandssemester in Sofia (Bulgarien), Master-Abschluss auf dem spanischen Festland in La Rioja. Danach fester Job, Wohnung mit Meerblick, Freundeskreis vor Ort. Wie hat es ihn ins Erzgebirge verschlagen? Welche Hindernisse galt und gilt es als Ausländer zu nehmen? Was kommt ihm in Deutschland manchmal spanisch vor?

Das Interview mit Enrique Lorenzo ist von Anfang an vertraut, offen und herzlich. In der sachlichen Besprechungsraumatmosphäre von Sachsenkabel in Gornsdorf kommen auch die großen Themen des Lebens, wie Liebe, das Gefühl von Zugehörigkeit und Zukunft, auf den Tisch.

Hand aufs Herz, Herr Lorenzo. Weshalb geht man von Teneriffa weg?

Naja, ich habe dort meine heutige Frau kennengelernt. Sie ist Deutsche und hatte damals ihre Freundin, die ein Erasmus-Studium an meiner Uni machte, besucht. Wir kamen über das Thema „Austauschsemester“ ins Gespräch. Bulgarien war der Punkt, an dem wir eine Gemeinsamkeit hatten. Sie war immer dort im Urlaub , ich zum Auslandssemester.

Wenn es gut geht, hast du die echte Liebe gefunden. Da ist es am Ende egal, ob es dort kalt ist oder nicht – du wirst ja deine Sonne immer bei dir haben.

Zuerst führten wir eine Fernbeziehung. Für sie als Ärztin wäre es auf Teneriffa arbeitsmäßig nicht einfach gewesen. Sie spricht kein Spanisch, braucht die Sprache aber im Alltag und auch für ihre Zulassung. Seit dem Studium arbeite ich im Vertrieb und weiß, wie wichtig es ist, eine Sprache zu können.

Als wir wussten, dass wir Eltern werden, habe ich gesagt: Wir gucken, was kommt. Die echten Sachen des Lebens kommen vom Herz. Die sind nicht zu bezahlen. Ich bin von Teneriffa fortgegangen, weil ich mich in meine Frau, sprich damalige Freundin, verliebt hatte.

LWL - Sachsenkabel GmbH

Hauptstraße 110

09390 Gornsdorf

Fon : +49 (0) 37 21 / 39 88-0

Email : info@sachsenkabel.de

https://www.sachsenkabel.de/

Aktuelle Stellenangebote

La familia. In Spanien hat die Familie einen hohen Stellenwert. Wie haben Ihre Eltern auf Ihre Pläne reagiert?

Meine Eltern sind international. Sie haben mir Mut gemacht und gesagt, du hast nichts zu verlieren. Flieg nach Deutschland, lerne die Sprache. Wenn es nicht läuft, du tief fällst, kannst du zurückkommen. Okay, deinen Job hättest du nicht mehr. Aber so ist das Leben. Wenn es gut geht, hast du die echte Liebe gefunden. Da ist es am Ende egal, ob es dort kalt ist oder nicht – du wirst ja deine Sonne immer bei dir haben. Und dann landete ich Ende 2018 in Berlin.

Berlin. Von der Metropole ins Erzgebirge. Was haben Sie erlebt?

Berlin war mein erstes Zuhause, heute ist es mein zweites. Meine Frau hatte studiert und arbeitete damals dort und ich hatte meinen Deutschkurs. In dieser Stadt findet man als Ausländer schnell seine Community, in der man sich aufgehoben fühlt. Man fällt einfach nicht so auf.

Als wir beschlossen, nach Sachsen zu gehen, hatte ich Sorge. Man riet mir schon auf dem Arbeitsamt in Berlin davon ab. Freunde von mir haben gesagt: „Enrique, guck‘ dich an. Du hast braune Haut, schwarze Haare und du redest komisch. Willst du das?“ Ich wusste, es wird kompliziert. Aber meine Tochter sollte in Familiennähe, also bei der Oma im Erzgebirge, aufwachsen.

Lesen und immer parallel übersetzen, das war echt anstrengend. Ich lerne immer noch. Jeden Tag.

Von der Ferne ein Unternehmen suchen – das stelle ich mir schwer vor. Wurden Sie von irgendeiner Stelle unterstützt?

Ja, wie macht man so etwas am besten? Sollte ich mich irgendwo bewerben? Dann habe ich mit meinem Schwiegervater gesprochen. Von ihm kam der Tipp. „Es gibt hier so eine Art Servicestelle von der Wirtschaftsförderung. Sag einfach, wer du bist und was du bisher gemacht hast.“

Am wichtigsten war mir, dass ich eine Firma finde, die prinzipiell und auch mir gegenüber als Ausländer offen ist.

Dann habe ich einfach meinen Lebenslauf an das Welcome Center Erzgebirge in Annaberg- Buchholz geschickt. Es kam zu einem Gespräch. Danach wurden mir drei Unternehmen vorgeschlagen. Das erste war Sachsenkabel, es hat auf Anhieb gepasst. Hier wollte ich gleich arbeiten.


Am Erzgebirge interessiert? ❤lich willkommen!

Das Welcome Center Erzgebirge hilft bei Fragen gern weiter und unterstützt beim Ankommen und Einleben in der Region. Der Service ist regional, individuell und kostenlos – oder kurz gesagt, einfach hERZlich. Jetzt kontaktieren!
03733 145 109  E-Mail Website


Ihr Einstieg bei Sachsenkabel war als Trainee. Was kann man sich darunter vorstellen?

Wenn man etwas verkaufen will, muss man schon eine Ahnung davon haben. Vorher habe ich als Vertriebler für irisches Bier gearbeitet, hatte also weder etwas Technisches gelernt oder studiert. Kabelmantel, was ist das? Steckverbinder? Das Problem ist, diese Wörter stehen in keinem Deutschbuch. Als Trainee konnte ich die Prozesse im Unternehmen und vor allem die technischen Basics kennenlernen. So war ich unter anderem zwei Monate in der Fertigung, habe jeden Handgriff gesehen und mitgemacht. Das hat mir geholfen, das große Ganze zu kapieren. Es gab auch Tage, an denen ich mich fragte, ob das wirklich etwas für mich ist. Lesen und immer parallel übersetzen, das war echt anstrengend. Ich lerne immer noch. Jeden Tag.

Von der Tourismusdestination Teneriffa in den ländlichen Raum: Worüber haben Sie hier den Kopf geschüttelt?

Oh, da fällt mir etwas Lustiges ein. Ich kam ganz frisch von Berlin, hatte Deutsch gelernt und dachte, ich verstehe das Meiste. In der ersten Woche in der Firma haben so viele Leute zu mir gesagt: „Enrique, gieht schie“? Um das zu verstehen, habe ich mir die Wörter hergenommen: Gieht wie gehen. Schie wie Ski fahren. Es war ja mitten im Januar, überall lag Schnee.

Meine Antwort darauf war: „Nein, noch nicht. Habe ich noch nicht gemacht“. Man guckte mich seltsam an, ein bisschen wie gaga und ich wusste nicht warum. Dann habe ich zurückgefragt: „Und Sie? Und du?“ Bis schließlich ein alter Mann sagte: „Enrique, gieht schie?“ Da war mir klar, das muss etwas anderes als Skifahren sein. Zuhause fragte ich meine Frau, was das bedeuten soll. Bis irgendwann klar war: Gieht schie ist die Frage danach, ob es geht, ob es passt. Mundart ist für einen Ausländer wie mich echt schwierig.

Noch ein Beispiel aus der Firma. Ich hatte echt schon viele Worte gelernt, arbeitete bereits in der Fertigung und wollte nicht blöd dastehen. Die Frauen sagten: „Enrique, mach das so. Am besten mit dem Bippus“. Ich: „Mit was“? „Mit dem Bippus“. Ich guckte nach im Wörterbuch. Nix. Bis ich dann begriffen habe, ein Bippus ist ein kleines Ding.


Immer informiert – Jetzt Newsletter abonnieren.


Was vermissen Sie am meisten, wenn Sie an Ihr Zuhause denken?

Generell tickt man auf Teneriffa schon etwas anders als in Spanien. Man hat dort immer schon sehr viele Migrantinnen und Migranten, Leute aus den EU-Ländern, Südamerika und Afrika. Die vielen Nationalitäten haben die Einwohnerinnen und Einwohner offener gemacht. Hier hört man sofort, dass ich kein Deutscher bin. Wenn ich im Supermarkt mit meiner Tochter Spanisch spreche, werde ich angeguckt als einer, der womöglich etwas klauen will.

„So wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus“, lautet ein deutsches Sprichwort. Was wäre Ihrer Ansicht nach zu ändern?

Als ich von Venezuela nach Teneriffa kam, gab es Probleme mit dem Tourismus. Einige Inselbewohnerinnen und -bewohner sagten: „Mensch, die Touristen kommen und nehmen uns die Strände weg. Sie besetzen unsere Restaurants. Wir haben keine Ruhe mehr“. Dann hat man von offizieller Seite eine Kampagne gestartet. Die hatte die Grundbotschaft: „Wir brauchen das. Davon leben wir. Lasst uns der Welt zeigen, wie lebensfroh wir auf Teneriffa sind. Mit Missmut tun wir uns keinen Gefallen.“

Man hat zehn Jahre zum Umdenken gebraucht, aber man war sich von Anfang an einig. Das vermisse ich hier in der Region. Wenn Leute von außen für die Zukunft und die Wirtschaft gebraucht werden, muss man das breit und in allen Schichten der Bevölkerung kommunizieren. Ohne Einigkeit wird das nichts, egal, welcher politischer Ansicht man ist.

Wo geht Ihnen das Herz auf?

In der Weihnachtszeit . Die Lichter, die Räucherkerzen. Sonst leben wir recht minimalistisch, aber im Dezember sind ganz viele Sachen da. Jedes Jahr diskutieren meine Frau und ich, wie viel Farbe bei der Beleuchtung geht. Meine Frau kriegt dann die Krise. Doch dann einigen wir uns: „Du bekommst eine Ecke, wo du deine Farben haben kannst. Das machen wir so, dass es dir gefällt. Und meins machen wir auch noch.“ Heute ist alles gemischt. So funktioniert Integration. Wie bei einer Mitbringparty. Jeder bringt etwas mit. Ich meins, du deins. Dann haben wir etwas zusammen. Integration ist nicht Anpassung oder ein „So wird es gemacht“.

Integration ist nicht Anpassung oder ein ‚So wird es gemacht‘.

Text: Beatrix Junghans-Gläser
Fotos: Georg Ulrich Dostmann