Professor rät: Bürger einbeziehen
Wird die Demografie zum Feind der Demokratie? Das provokante Thema hat am Dienstagabend mehr als 100 Gäste zum 23. Comenius-Forum Erzgebirge nach Annaberg gelockt. Andreas Luksch sprach im Anschluss mit dem Referenten des Abends, Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt. Freie Presse: Ein voller Saal - waren Sie überrascht? Werner J. Patzelt: Vor allem habe ich mich gefreut, dass auch zahlreiche Entscheidungsträger da waren.Schließlich geht es hier nicht um ein abstraktes akademisches Thema, sondern um wirklich große konkreteHerausforderungen. Welche sind das? Der Bevölkerungsrückgang erfordert Antworten auf viele Fragen, etwa die: Wie kann Demokratie funktionieren, wenn nicht länger jene die Mehrheit stellen, die den Staat finanzieren, sondern jene, die von ihm leben? Wie verschaffen wir Eltern und Kindern mehr politisches Gewicht? Wie bauen wir unsere Infrastruktur in einer schrumpfenden Gesellschaft um? Wie gestalten wir die nötige Zuwanderung? Wie bewahren wir dennoch unsere Kultur? Wie könnte dem künftigen Ungleichgewicht zwischen den Generationen begegnet werden? Einerseits müssen Ältere länger aktiv bleiben, und zwar nicht nur im Beruf, sondern auch in der Zivilgesellschaft. Andererseits müssen wir bessere Rahmenbedingungen für Eltern und Kinder schaffen. Der wichtigste politische Hebel dafür wäre, dass Eltern bei den Wahlen pro Kind eine zusätzliche Stimme erhalten. Die politischen Parteien würden darauf sehr rasch reagieren! Stichwort Zuwanderung: Noch gibt es im Erzgebirge Zehntausende ohne Arbeit und viele, die Hunderte Kilometer zur Arbeit pendeln - also durchaus genügend Ressourcen. Wann wird der Bevölkerungsschwund wirklich zum Problem? Die Arbeitslosenquote sinkt jetzt schon, auch aufgrund des Alterns der Bevölkerung. Betriebe haben bereits Probleme, Jugendliche zu bekommen. In absehbarer Zeit müssen die Unternehmen Westlöhne bezahlen, um möglichst viele Pendler zurückzuholen. Und bald wird die bei uns verfügbare Arbeitskraft ohnehin knapp, vor allem in Pflegeberufen, im Handwerk und bei den Ingenieuren. Dann wird es nicht mehr ohne Zuwanderer gehen. Knappere Ressourcen, das heißt heißere Debatten. Was empfehlen Sie Kommunalpolitikern? Die Bürger möglichst direkt in die Entscheidungen über den erforderlichen Rück- und Umbau der Infrastruktur einzubeziehen. Außerdem braucht es eine "Willkommenskultur" für Zuwanderer. Wie könnte Zuwanderung ohne Probleme gemeistert werden? Es wird nicht ohne Probleme abgehen. Gerade deshalb muss man Einsicht in die Notwendigkeit von Zuwanderung schaffen, ja sogar Stolz darauf, dass tüchtige Leute zu uns - und nicht nach Kanada oder in die USA - wollen. Das wiederum setzt voraus, dass wir erst in zweiter Linie Zuwanderung über das Asylrecht bekommen, sondern in erster Linie gesetzlich so ausgestalten, dass sie zur Bewältigung unserer demografischen Probleme beiträgt, also Leistungsträger in unser Land holt. Und natürlich gibt es solche auch unter den Asylbewerbern. Quelle: Freie Presse, Ausgabe Auer Zeitung, 16.06.2011