Kunstwelt will nach Thalheim: Bewerbungen aus 68 Ländern bei Begehungen

Am 20. März 23.59 Uhr endete die Einreichungsfrist für das diesjährige Kunstfestival Begehungen. Bis zur letzten Minute wurden Werke und künstlerische Konzepte eingereicht. Fünf Wochen hatten Künstlerinnen und Künstler zuvor Zeit gehabt, sich von den Fotografien des leerstehenden Erzgebirgsbads in Thalheim und des Ausschreibungstextes inspirieren zu lassen. Das Ergebnis überraschte das Festivalteam überaus: 691 Bewerbungen wurden über das eigens geschaffene Onlineportal eingereicht. Das bedeutet eine erneute Rekordzahl.

„Wir waren sehr gespannt. Schließlich findet das Festival in diesem Jahr erstmals nicht in Chemnitz statt. Es war also keineswegs sicher, ob die Kunstschaffenden unseren Weg in die sächsische Kleinstadt Thalheim mitgehen. Umso erfreulicher ist dieses Ergebnis“, erklärt Begehungen-Vorstandsvorsitzende Luise Grudzinski. Etwa die Hälfte der Bewerbungen erreichten das Festivalteam aus Deutschland. Viele Bewerbungen kamen zudem aus Großbritannien (33), Österreich (30) und Frankreich (24). Stark vertreten sind außerdem Italien, Polen, Tschechien, Spanien, Mexiko, Niederlande und die USA. Insgesamt 68 Länder in Europa, Nord-, Mittel- und Südamerika, Asien, Afrika und Australien sind in der Auswertung gelistet.

Residenzprogramm gefragt

Die Gründe für diese hohe Beteiligung sind vielfältig. Neben dem generell gewachsenen, internationalen Renommee des Festivals und den Prestigegewinn durch den Titel „Europäische Kulturhauptstadt 2025“ ist es wohl der Ort selbst, der maßgeblich zum Rekordergebnis beitrug. Mitorganisator Lars Neuenfeld: „Da die Künstler*innen ihre Werkidee immer mit einer kurzen Begründung versehen können, wissen wir recht gut, warum sich so viele inspiriert fühlten. Das Schwimmbad als universeller Ort, der so oder ähnlich fast in der ganzen Welt existiert, hat viele Erinnerungen, Assoziationen und kreative Ideen freigesetzt.“ Die Ausschreibung enthielt zudem die Option, sich mit einem künstlerischen Konzept zu bewerben, das die Geschichten, Erfahrungen oder Fertigkeiten der Thalheimerinnen und Thalheimer einbezieht. Viele der Bewerbungen nehmen nun darauf Bezug. Luise Grudzinski: „Wir wissen, dass ein Festival für moderne Kunst in einer Kleinstadt immer auch ein Wagnis ist. Die vielen eingereichten Konzepte zeigen aber, dass wir mit unserer Beteiligungsidee einen Nerv getroffen haben.“ Neben bereits existierenden Werken, die als Einsendung zum Festival gelangen, werden mindestens sechs Künstlerinnen und Künstler zeitweise in Thalheim wohnen und sich mit der Stadt, ihrer Geschichte und Bewohnerinnen und Bewohnern beschäftigen. Erweitert wird der ArtistIn-Residence-Gedanke um einen digitalen Aspekt, der Remote-Residenz (RR). Für die Künstlerinnen und Künstler entfällt die Notwendigkeit des Reisens, sie kommunizieren über digitale Wege mit Menschen vor Ort und erarbeiten so ein ortsspezifisches Werk. Weitere vier solcher Remote-Residenzen wird es 2022 geben.

Auswahlprozess gestartet

Welche Werke nun konkret in der Ausstellung zwischen dem 11. und 21. August 2022 gezeigt werden, entscheidet sich in den nächsten sechs Wochen. Für den Auswahlprozess geht das Festival-Team neue Wege: Bisher wählte eine Fachjury die Werke für die Ausstellung aus, diesmal sieht sich das Begehungen-Team selbst als Teil des Beteiligungsprozesses. „Unser Verein ist für einen Kunstverein erstaunlich divers besetzt. Eine Hälfte ist über 30, die andere darunter. Fast paritätisch bei den Geschlechtern. Einige haben einen Studienabschluss, andere nicht. Selbstständige, Angestellte, Studierende und Auszubildende gehören dem Verein an, jedoch keine Kunstschaffenden oder Menschen mit einem kunstspezifischen Studienabschluss. Gerade deshalb haben wir unser Herz in die Hand genommen und gesagt: Wir suchen die Kunst jetzt selbst aus“, verrät Lars Neuenfeld. Ergänzt wird diese Jury durch eine Person aus Thalheim.

Hintergrund „Demokratisierung der Kunst“

Die Debatte um die Demokratisierung der Kunst wird seit einigen Jahren in vielen Ländern intensiv geführt. Die Blickwinkel darauf sind mannigfaltig. Einen wichtigen Aspekt bilden aber Fragen nach der kuratorischen Hoheit. Wie kommt das, was wir in Ausstellungen sehen, zusammen? Welche Idee liegt der Ausstellung zugrunde? Wer trifft die Auswahl? Welche Künstlerinnen und Künstler haben die Möglichkeit auszustellen, welche nicht? Die Antwort ist sowohl für öffentliche Museen, wirtschaftliche arbeitende Galerien und Kunstmessen recht eindeutig: Fast immer ist es eine akademisch geschulte Elite, die den Zugriff auf Kunstwerke hat. Darüber hinaus stehen nicht selten monetäre Aspekte im Vordergrund. Allgemeiner Tenor im Diskurs ist, dass dadurch das Verständnis breiter Bevölkerungsschichten für Kunst, speziell für aktuelle Kunst, leidet.

Das Kunstfestival Begehungen begreift sich generell als Institution, die alle Bevölkerungsgruppen, gerade auch kunstferne, begrüßen will. Darauf aufbauend und mit Blick auf „C The Unseen“, dem tragenden Thema der Chemnitzer Kulturhauptstadtbewerbung, umreißt Lars Neuenfeld für das Festival-Team seinen Blick auf die Debatte wie folgt: „Demokratisierung der Kunst heißt für uns nicht eine Anbiederung an einen vermeintlichen Massengeschmack, kein Beschneiden künstlerischer oder kuratorischer Freiheit. Es beschreibt einen Prozess des Vermittelns, welcher über bloßes Erklären hinausgeht. Ein Weg zu mehr Demokratie in der Kunst kann das Mitnehmen von Menschen beim Produzieren der Kunstwerke, der Ausstellung und des Festivals insgesamt sein. Wir glauben, dass es etwas mit der Bevölkerung macht, wenn die Nachbarin, der Kumpel vom Fußballverein oder die Mitschülerin konkret an Kunstwerken oder am Ausstellungsaufbau mitwirken. Bestenfalls multiplizieren sich diese Erfahrungen in der ganzen Stadtgesellschaft.“