22.07.2025
Vom Reiz der Allzuständigkeit eines Bürgermeisters
Er hätte einen wirklich ruhigeren Job haben können. Wollte er aber nicht. Seit 10 Jahren, knapp 3.700 Tagen, ist Sascha Thamm Bürgermeister von Neukirchen/ Erzgebirge . Wie bringt man Menschen zusammen, damit sie gern in ihrem Heimatort leben? Was ist die wichtigste Zutat, um eine Kommune zukunftsfest zu machen? Nach Kopfsprung, einigen Schwimmzügen und den obligatorischen Freibad-Pommes sprach er über die Challenge und die Chancen einer erzgebirgischen Gemeinde vor den Toren der Europäischen Kulturhauptstadt 2025 Chemnitz. Ein Interview von Herzblut und der Bandbreite der Themen, die auf dem Tisch eines Bürgermeisters landen.
Sie sind seit fast 10 Jahren im Amt. Haben Sie eine Devise, die Sie durch die ganze Zeit getragen hat und trägt?
Mit Herzblut für unsere Gemeinde.
Das ist der Spruch aus meinem ersten Wahlkampf, der mein roter Faden über die ganzen Jahre geblieben ist. Ich mach‘ das hier immer noch unglaublich gerne.
Warum Herzblut?
Ich liebe meine Gemeinde und meine Heimat einfach. Ich bin zwar in Karl-MarxStadt geboren, wohne aber immer schon in Neukirchen im Erzgebirge. Seit 39 Jahren. Alles, was für meinen schulischen und beruflichen Werdegang wichtig war, hat sich in der Umgebung abgespielt: Gymnasium in Einsiedel, Abitur in
Stollberg
, ein drei Semester langer Ausflug an die
TU Chemnitz
, Ausbildung und erster Job bei der Stadt Lugau. Klar, ich hätte auch nach Frankfurt am Main gehen können, hatte da ein Jobangebot. Aber ich wollte nicht weg.

Müssen Sie jetzt manchmal raus?
Etwas anderes sehen, erfrischt den Geist. Wir sind gerne in Italien. Dort spielt sich ganz viel auf der Straße ab. Die Leute frühstücken draußen. Nehmen ihren ersten Espresso und ein Hörnchen in den Bars. Dazu noch etwas Smalltalk – dieses Lebensgefühl hat etwas.
Heute ist einer der heißesten Sommertage 2024. Bereits jetzt zur Mittagszeit ist das Bad gut besucht. Was denken Sie, wie viele Gäste von außerhalb hier sind?
Im Süden von Chemnitz sind quasi alle Freibäder dicht. Wenn ich mich nicht irre, sind das Freibad Einsiedel und der
Stausee
Oberrabenstein die nächsten Bademöglichkeiten. Natürlich kommen die Leute zu uns raus. Uns ging es aber darum, das Freibad für die Neukirchener Bevölkerung wieder fit zu machen. 2025 feiern wir 100 Jahre Freibad. Generationen sind mit ihrem Bad aufgewachsen, sind in lauen Sommernächten über den Zaun geklettert. So etwas gehört auf dem Dorf dazu. Das ist uns und der Bademeisterin völlig bewusst. Dennoch wurde dabei nie etwas zerstört.
Wie wurde das Bad hergerichtet?
Die Tage des Bades waren gezählt. 2017 beschloss der Gemeinderat für das Freibad eine Rundum-Kur. Die nachhaltigste und sinnvollste Lösung sieht man heute. Die Badefläche wurde ca. um ein Drittel verkleinert. Das vorherige Becken war viel zu groß; Schwimmer und Nichtschwimmer in einem Bereich. So eine große Wasserfläche ist unwirtschaftlich und hat wenig Mehrwert. Außerdem fiel die Wahl auf ein Edelstahlbecken. Wenn hier mal ein Mülleimer oder Glasflaschen landen, steht keine Komplettreparatur an. Sauer macht mich solcher Stuss trotzdem.
Lassen Sie uns über Daseinsfürsorge sprechen. Dass das Wasser läuft, der Strom fließt, der Müll abgeholt wird, die Schule, der Kindergarten oder eine einsatzbereite Feuerwehr vor Ort sind, gehört zu den Pflichtaufgaben einer Kommune. Was leistet sich Neukirchen als Kür?
Definitiv Freibad, Bibliothek, das Gemeinschaftszentrum NETZ-Werk im Gewerbepark, die Jugendarbeit. Wobei ich die Jugendbeteiligung als Pflichtaufgabe sehe. Die müsste vom Freistaat finanziert werden und nicht vom Haushalt des Landkreises oder unserem eigenen. Der Bikepark gehörte auch zur Kür. Die Jugendlichen waren wirklich eine coole Truppe. Nur, sie sind jetzt rausgewachsen. Das Areal verkam. Unser Plan ist es, dort eine Außenstelle des Jugendclubs zu schaffen. Ein Platz, wo man sich open end treffen kann und sich keine Nachbarschaft gestört fühlt.
Neukirchen im Erzgebirge, eine Gemeinde mit knapp 7.000 Einwohnern, liegt kurz vor Chemnitz. Wer profitiert hier von wem und vor allen Dingen wie?
Wir können gegenseitig voneinander profitieren, wenn wir gut miteinander arbeiten. Neukirchen hat etwas von der Infrastruktur der Stadt Chemnitz und der Kultur. Da hat Chemnitz mehr zu bieten, als allgemein bewusst ist. Andererseits, was nützen mir Theater,
Kino
, Clubs, wenn ich keinen öffentlichen Nahverkehr habe, der mich zwar hin und im schlimmsten Fall nicht wieder zurückbringt?
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2025 feiern wir 100 Jahre Freibad.
Neukirchen hat das größte Baugebiet im Erzgebirgskreis, was nach 1989 genehmigt und erschlossen wurde. Wer ist zugezogen?
Insgesamt sind an der Forststraße 120 Einfamilienhäuser entstanden. Darüber sind wir froh. Heute gibt es Genehmigungen für Projekte von dieser Dimension nicht mehr. Einige Chemnitzer sind zu uns rausgezogen. Es kamen auch Neukirchener wieder zurück, weil es Bauplätze gab. Andere sind aus der Altbausubstanz im Ort in ihren Neubau gewechselt. Eine bunte Mischung also.
Was reizt Sie an Ihrem Amt?
Tatsächlich die Allzuständigkeit des Bürgermeisters. Jeder kennt dich. Man ist 24/7 Bürgermeister. Die Menschen sprechen auf eine ganz andere Art und Weise mit dir. Sie wissen, wenn sie mich direkt fragen, bekommen sie eine ordentliche Antwort. Man kann mich jederzeit erreichen: auf Facebook, Instagram, WhatsApp oder live, wie hier im Freibad. Allzuständigkeit bedeutet auch, dass ich in allen Themen drin bin: Baustellen, Parksituation, Einkaufssituation im Ort etc. Ich kann Zusammenhänge erklären, richtigstellen, informieren.
Gelingt Ihnen das Privatsein?
Sagen wir, ich arbeite daran. E-Mails lese ich nach wie vor und es klingelt auch das Smartphone. Nein zu sagen, das ist nicht meine Kernkompetenz. Logischerweise wünscht sich meine Familie mit mir Zeit, exklusive Zeit. Das kann ich nicht gewährleisten: Jederzeit könnte die Feuerwehr, der Landrat, ein Amtskollege etc. anrufen.
Jeden Dienstag ist Bauberatung „Neubau Grundschule“. Gehen Sie da als Bürgermeister selbst hin?
Klar. Das bringt die Größe der Kommune mit sich. Ob das der Baubürgermeister von Chemnitz macht, wage ich zu bezweifeln. In Neukirchen haben wir keinen Bauamtsleiter und nur vier Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bauamt. Bei uns geht das über gegenseitige Absprachen und dem Erlernen von Projektmanagement.
Investitionen der Kommune kosten Geld. Kennen Sie jeden Fördertopf?
(Lacht) Nein, es gibt über 2.000 verschiedene im Freistaat. Ich weiß um die finanzstärksten, die wir für Neukirchen brauchen. Wir haben klar definierte Projekte und suchen dann nach den passenden Fördermitteln.
Was braucht es heute, um eine erzgebirgische Landgemeinde wie Neukirchen zukunftsfest zu machen?
Gemeinschaft! Dann kommt der Rest von allein. Darum werde ich auch nicht müde, das in jedem Amtsblatt den Menschen ans Herz zu legen. Pflegen wir kein Miteinander und arbeiten gegeneinander, gehen wir hier verloren. So stark wie die Gesellschaft jetzt individualisiert ist, stehen wir bereits vor einer Mammutaufgabe. Sprüche, die auf ein Wahlplakat passen, lösen die Probleme nicht. Wäre super, wenn es so wäre. Nur hätte es längst schon jemand gemacht. Egal, was draußen in der Welt passiert, wichtig ist, dass wir uns aufeinander verlassen können. Die innere Überzeugung trägt, dass man schwierige Zeiten meistern kann.

Wie bekommen Sie die Leute dafür „raus“ – aus ihren eigenen vier Wänden und im Sommer aus dem eigenen Pool?
Prinzipiell versuchen wir, über die Kinder die Gemeinschaft anzuregen. Das beginnt mit den Kiddies im Kindergarten. Werden die Kita-Kinder eingeladen und sie treten öffentlich auf, kommen automatisch ihre Eltern, Großeltern bzw. Verwandten mit. Steter Tropfen höhlt den Stein.
Pflegen Sie deshalb den Plausch über den Gartenzaun?
Nun, unser Rathaus scheint eine sehr hohe Türschwelle zu haben. Die Menschen machen von selbst keinen Termin. Selbst mein Angebot der Bürgersprechstunde lief nicht an. Dann kupferte ich mit Erlaubnis die Idee vom Niederdorfer Bürgermeister Stephan Weinrich ab: Gartenzaungespräche. Zusammen mit der Ortsvorsteherin Simone Brodauf bin ich zum Beispiel im Ortsteil Adorf unterwegs. Beim ersten Mal waren die Reaktionen verhalten. Beim zweiten Mal saßen die Leute auf ihren Gartenstühlen schon draußen.
Wie oft wird Ihnen Kaffee, ein Bier oder ein Schnaps angeboten?
Tatsächlich sehr oft. Wenn ich da Ja sagen würde, käme ich nicht mehr nach Hause.
Text: Beatrix Junghans-Gläser
Fotos: Georg Ulrich Dostmann