30.09.2025
„Kummt ner rei“
„Es ist still. So still, dass ich nicht mehr höre als meine Schritte auf dem Asphalt und die trägen Pferde , wie sie in der immer noch heißen Nachmittagssonne mit dem Schweif nach den Fliegen schlagen. Irgendwo weit weg schellt eine Fahrradklingel. Zu meiner Linken stehen Fachwerkhäuser, zu meiner Rechten liegen Wiesen mit vereinzelten Bäumen. Hinter all dem ragt in seiner unverwechselbaren Silhouette der Pöhlberg auf.“ Begleitet unsere Autorin Magda Lehnert bei ihrer Selbsterfahrung mit dem Pilgerweg in Königswalde.


DER VIELLEICHT KÜRZESTE PILGERWEG DER WELT
Es ist der vielleicht kürzeste Pilgerweg der Welt: Gerade einmal 6,2 Kilometer ist der neue Rundwanderweg in Königswalde lang und doch kann man hier problemlos einen halben Tag verbringen, so viel gibt es am Wegesrand zu entdecken. Ganze 26 Sinnsprüche zieren die Route, unzählige hübsch gestaltete Gärten, altehrwürdige Häuser und dann ist da natürlich noch die St. Trinitatiskirche mit ihren weißen Holzbänken und den weiß vertäfelten Galerien und Decken.
Obwohl ich sonst gern etwas sportlicher unterwegs bin, merke ich, wie sich meine Schritte verlangsamen, als mein Blick suchend durch die Gegend schweift, um nicht etwa einen der Sinnsprüche zu verpassen. „Alle wollen die Welt verändern, aber keiner sich selbst“, zitiert das nächste Schild Leo Tolstoi. Und weil ich gekommen bin, um mich dem Experiment voll und ganz hinzugeben, atme ich tief ein und wieder aus, schließe die Augen und denke darüber nach, ob es nicht vielleicht eine nötige Veränderung gibt, der ich in letzter Zeit bewusst oder unbewusst aus dem Weg gegangen bin …

DELPHI, SANTIAGO DE COMPOSTELA, KÖNIGSWALDE
„Im Kirchenlatein bezeichnet Peregrinus (Italienisch: Pellegrino) eine Person, die aus Glaubensgründen in die Fremde zieht, zumeist eine Wallfahrt zu einem Wallfahrtsort unternimmt.“ – so lautet Wikipedias nüchterne Antwort auf die Frage, was ein Pilger sei.
Bereits in der Antike pilgerten die Menschen zum Tempel der Artemis in Ephesos oder dem Apollon-Orakel von Delphi. Wirklich populär aber wurde das Pilgern in Europa mit dem Aufkeimen des Christentums. Über die Jahrhunderte gab es viele beliebte Ziele, doch keines entwickelte eine solche Anziehungskraft wie das Grab des Apostels Jakobus in der Kathedrale von Santiago de Compostela am Ende des Jakobswegs. Wobei man sich vom hier verwendeten Singular nicht täuschen lassen darf: Was gemeinhin als Jakobsweg bezeichnet wird, ist ein Netz von 50 Pilgerwegen, das sich zehntausende Kilometer weit über ganz Europa spannt – bis ins Erzgebirge hinein, wo der ErzCamino Jahnsdorf und Kadaň miteinander verbindet.
Inzwischen aber ist das Pilgern längst nicht mehr nur eine religiöse Wanderschaft. „Guck Dir das an ... diese ganzen Leute. Latschen den ganzen Tag auf der Suche nach Gott oder Erleuchtung oder ... Sex. Die haben Hunger, müssen aufs Klo und stehen trotzdem hier an für so ´nen ... Stempel“, schrieb schon Hape Kerkeling in seinem Weltbestseller. Doch wer „Ich bin dann mal weg“ gelesen hat, weiß, dass dies nur eine von tausend Wahrheiten ist, was eine Pilgerreise heute bedeuten kann
Jede Person, der man auf einem Pilgerweg begegnet, wird eine eigene Antwort geben, warum sie aufgebrochen ist – so auch Viola Rothe, Initiatorin des Königswalder Pilgerwegs. Seit 2019 ist sie immer wieder auf den Jakobswegen unterwegs: „Pilgern kann man immer, dafür muss man nicht an Gott glauben. Pilgern ist zum Beispiel die Begegnung mit Menschen, die man nur trifft, wenn man sich auf den Weg macht und den Mut hat, auszubrechen und loszugehen, ohne immer das Zimmer vorab zu buchen. Man lernt Dankbarkeit und die Besinnung auf das Wichtige im Leben: Man braucht ein Dach überm Kopf, einen Schlafplatz, etwas zu essen, ab und zu eine Dusche. Alles andere, was wir in unserem Leben zusätzlich haben, das ist Luxus. Und das lernt man auf so einem Weg wieder zu schätzen: Was man hat, wenn man Zuhause durch die Tür tritt.“
PILGERN KANN MAN IMMER, DAFÜR MUSS MAN NICHT AN GOTT GLAUBEN.
„Kummt ner rei“, steht auf dem Holzschild vor einem der vielen Gärten. Doch dieser ist anders. Er ist wild, die Pflanzen wachsen in alle Richtungen und mittendrin steht eine Bank, genau an der richtigen Stelle, um auf den Pöhlberg zu schauen. Wie ein Magnet zieht sie mich an. Und was für ein Anblick das ist, gerade jetzt, als die Sonne hinter ihn sinkt und sich die Bäume mit einem goldenen Rand vom Himmel abzeichnen! Unter allen Bergen der Welt würde ich diesen immer wieder erkennen. Später erfahre ich, dass dieser Garten einer alten Dame gehört und wie glücklich sie ist, wenn Menschen ihrer Einladung am Gartenzaun folgen, um sich an diesem Ort zu erfreuen.
Den Anlass für die Gestaltung des Königswalder Pilgerwegs gab das 500-jährige Jubiläum der St. Trinitatiskirche. „Wir wollten einfach nach außen bringen, was Gemeinschaft ausmacht und auch Kirche, das Leben miteinander“, erklärt Viola Rothe. Obwohl sie selbst eng mit der Kirche verbunden ist, war ihr bei der Auswahl der Sinnsprüche ganz besonders wichtig, nicht nur religiöse Worte an den Weg zu bringen. „Es begeben sich ja auch Menschen auf den Weg, die Gott nicht kennen und die darf man nicht mit dem Hammer erschlagen. Manche sind ja auch auf der Suche nach sich selbst oder dem Sinn im Leben.“
ALLES, WAS DIE PILGERREISE BRAUCHT
Auf der anderen Seite des Ortes verlasse ich die Straßen und die Gärten für einen Moment und tausche sie gegen einen schmalen Pfad. Es scheint, als würde der Weg hier sein Thema wechseln: Während bis hierher die Menschen und die Begegnungen am Gartenzaun im Vordergrund standen, ist es nun die Natur – sei es in Form der ausladenden Bäume, der Katze, die im gemähten Gras auf eine Maus lauert, der Blüten der Wildblumen oder der Kuh, die sich neugierig an ihren Zaun drängt und sich nur zu gern von mir die Stirn kraulen lässt.
Weil Königswalde nicht nur seinen eigenen Pilgerweg hat, sondern auch am offiziellen Sächsischen Jakobsweg liegt, möchte Viola Rothe 2025 nun auch endlich eine eigene Stempelstelle und eine amtliche Pilgerherberge für Königswalde einrichten. Man munkelt jedenfalls, dass die Pfarrwohnung, die mit dem Ruhestand von Pfarrer Martin Seltmann 2024 frei wurde, die idealen Voraussetzungen biete, um zukünftig das Pilgererlebnis in Königswalde zu komplettieren.
Text und Bilder: Magda Lehnert