Damit der Airbag drinbleibt

Weil in Autos viel Elektronik verbaut ist, müssen die Hersteller sicherstellen, dass ihre Fahrzeuge ausreichend vor Störquellen aus der Umwelt abgeschirmt sind. Die Hochschule in Zwickau forscht auf dem Gebiet - ab morgen in einer Laborhalle, wie es

VON DENNIS KITTLER

ZWICKAU - Auf der Strecke von einem Ort A zu einem Ort B lauern auf ein Auto viele Gefahren. Die Bäume am Straßenrand und die Unebenheiten auf dem Asphalt sind nur die offensichtlichsten, die Unberechenbarkeit der anderen Autofahrer die gegenwärtigste. Sendeantennen von Radio- und Fernsehstationen, Mobilfunkmasten und die Fernbedienung, mit der ein anderer Autofahrer sein Garagentor öffnet: Für Fahrzeugentwickler sind vor allem sie es, die den Stoff für schlaflose Nächte bereithalten können. "Es wäre schlecht, wenn ein Kind mit einem funkferngesteuerten Auto spielt und mein Wagen die gleichen Bewegungen macht wie das Modell", sagt Norman Müller, der an der Westsächsischen Hochschule Zwickau ( WHZ ) die elektromagnetische Verträglichkeit von Autos erforscht.

Das Beispiel, beruhigt er, sei blanke Theorie, in der Praxis undenkbar. In Laborhallen analysieren Autohersteller Wechselwirkungen zwischen den eingebauten elektronischen Bauteilen wie etwa der Steuerungselemente des Antiblockiersystems, der Airbag-Sensoren und der Musikanlage. Um Fehler abzustellen, bevor wie aus heiterem Himmel der Motor ausgeht und das Fahrzeug mitten auf der Straße stehen bleibt. "Solche Hallen haben die deutschen Autohersteller und noch sieben oder acht Zulieferer", sagt Matthias Richter, Nachrichtentechnik-Professor an der WHZ und seit Anfang des Jahres Prorektor für Forschung und Wissenstransfer. Eine Hochschule, die sich einen solchen Prüfstand leistet, habe es bisher in Deutschland nicht gegeben. In Zwickau wird morgen der erste eingeweiht.

Knapp 3,5 Millionen Euro haben Bund und Freistaat Sachsen in eine Halle investiert, die von außen eher unspektakulär daherkommt, deren Inneres Matthias Richter und seine Forscherkollegen aber elektrisiert. Das Herzstück des Zentrums für Kraftfahrzeugelektronik ist ein etwa 135 Quadratmeter großer Raum: Die Wände sind mit zehntausenden kleinen Ferrit-Platten verkleidet, vor denen mehrere tausend pyramidenförmige, zum Teil einen halben Meter in den Raum ragende Schaumstoffkörper montiert sind. Beides zusammen absorbiert die elektromagnetischen Strahlen, denen das Versuchsfahrzeug bei Experimenten ausgesetzt wird und deretwegen sich während der Messungen kein Mensch in dem Labor aufhalten darf. Die 900 weißen Styroporplatten, die dem Labor den Charme einer futuristischen Schaltzentrale in einem Science-Fiction-Film verleihen, dienen vor allem der Optik: Sie verhelfen dem Raum zu mehr Licht.

Versuchskaninchen ist ein Audi A 8, den der Autobauer aus Ingolstadt - bis vor fünf Jahren Arbeitgeber von Prorektor Richter - der Hochschule geschenkt hat. Vier Antennenanlagen werden zu Forschungszwecken auf die Limousine gerichtet, die als Hülle für jene Bauteile dient, deren Verträglichkeit gegenüber elektromagnetischen Einflüssen getestet werden soll. Sie decken Frequenzbereiche von 100 Kilohertz bis über vier Gigahertz ab - vom Radio-Langwellenbereich über Mobilfunkfrequenzen bis zum Abstandsradar von Autos, mit dem die Distanz zum vorausfahrenden Fahrzeug gemessen wird. Ziel der Tests: Die Elektronik im Auto darf durch die Strahlen nicht gestört werden.

Interessenten aus der Industrie , die mit der Zwickauer Hochschule in Forschungsprojekten zusammenarbeiten und so von dem Messstand profitieren wollen, stehen schon Schlange, bevor die Halle überhaupt eröffnet ist. Ein erstes Projekt, sagt Matthias Richter, wurde sogar in der Probephase in den vergangenen Wochen abgeschlossen, ein zweites läuft gegenwärtig. Die Partner: ein deutscher Autokonzern, der ein neuartiges Motorsystem testen lässt, und ein sächsischer Hersteller von Elektrofahrzeugen, der seine Antriebe auf Störungen untersuchen ließ.

Gerade letzteres Projekt ist beispielgebend für das, was die Zwickauer künftig mehr und mehr beschäftigen wird. Elektrofahrzeuge, sagt Matthias Richter, werden in den kommenden Jahren das große Thema sein - und sie bieten noch deutlich mehr Angriffspunkte für elektromagnetische Störungen als die heutigen Autos. "Bei einem Elektroantrieb geht es um 400-Volt-Batterien und nicht mehr nur um 12-Volt-Bauteile. Da sind es gar nicht mehr bloß die Antennen aus der Umwelt, die als Störquelle eine Rolle spielen, sondern schon die Bauteile, die im Auto eingebaut sind", sagt Richter. Aufgabe der Forscher werde es deshalb sein, Wege zu finden, wie elektronische Bauteile und Leitungen abgeschirmt werden können, damit sie nicht auf andere Steuersysteme abstrahlen - und diese im schlimmsten Fall sogar außer Betrieb setzen. Richter: "Bedrohlich wird es dann, wenn Sensoren eine Gefahrensituation anzeigen, die gar nicht existiert - und die Elektronik im Auto dann falsch reagiert."

Den Gedanken, dass Zwickau ein modernes Zentrum für Kraftfahrzeugelektronik gut zu Gesicht stehen könnte, hat Matthias Richter schon Mitte 2007 in die Köpfe der damaligen Hochschulführung eingepflanzt. In einem Gespräch mit dem Rektor deutete er, der erst ein halbes Jahr zuvor aus der Autoindustrie in die Wissenschaft gewechselt war, die Idee an. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft gab 2008 eine Förderempfehlung ab, weil Zwickau schon Erfahrungen in der Erforschung der elektromagnetischen Verträglichkeit hatte. Im Mai 2010 begannen die Arbeiten.

"Es wäre schlecht, wenn ein Kind mit einem funkfern- gesteuerten Auto spielt und mein Wagen die gleichen Bewegungen macht wie das Modell."

Norman Müller Wissenschaftler

Einzigartig ist der Messstand in der deutschen Hochschullandschaft insofern, dass nirgendwo sonst das komplexe Wechselspiel aller in einem Auto verbauten elektronischen Teile und von Störsignalen aus der Umwelt betrachtet werden kann. Andere Versuchsräume gibt es nämlich sehr wohl, zum Beispiel in Magdeburg und in Kiel: Die sind aber deutlich kleiner und ermöglichen nur die Untersuchung einzelner Teile, nicht des gesamten Systems. "Unsere Anlage ist kompatibel zu jenen, die die Autohersteller nutzen", sagt Matthias Richter. So könnten Messdaten direkt mit denen der Produzenten verglichen werden.

Offen sein soll das Labor auch für die Studierenden. "Wir steigern durch die Halle unsere Attraktivität als Studienort", sagt Richter. Der Ingenieurnachwuchs könne das, was er sich theoretisch am Computer erdacht hat, somit auch unter realen Bedingungen ausprobieren. Und etwa testen, was zu tun ist, damit beim Einschalten der Sitzheizung nicht auch noch der Airbag aufgeht. Quelle: Freie Presse, Ausgabe Annaberger Zeitung, 13.10.2011